19. Juli 1932


Antisemitismus

Zu den Dingen, von denen die republikanische Linke kaum mehr zu sprechen pflegt, gehört auch der Antisemitismus. Die Presse begnügt sich damit, seine Existenz zuzugestehen, ohne sich über seine Erscheinungsformen näher auszulassen; gelegentlich nur werden allzu knotige Exzesse niedriger gehängt. Im ganzen ist man bereit, wie so vieles andere auch Israel still zu opfern. Die Menschen- und Bürgerrechte des Juden sind, wenn nicht angefochten, so doch wieder Gegenstand lebhafter Diskussion. Wieder ist es der Konterrevolution gelungen, das Thema aufzunötigen; sie hatte die Initiative, und die Demokratie sucht nur dadurch, daß sie nicht mitmacht, den Eindruck zu erwecken, als gäbe es die ganze Diskussion nicht.

Der Antisemitismus ist dem Nationalismus blutsverwandt und dessen bester Alliierter. Die beiden gehören zusammen. Denn ein Volk, das sich ohne Territorium und ohne materielle Autorität zweitausend Jahre in der Weltgeschichte herumtreibt, ist eine lebendige Widerlegung aller nationalistischen Ideologie, die den Begriff der Nation ausschließlich von machtpolitischen Voraussetzungen abhängig macht. Niemals hat der Antisemitismus in der Arbeiterschaft Wurzel gefasst, er war von je Sache des Mittelstandes und des kleinen Bauerntums; heute, wo sich diese Schichten in ihrer größten Krise befinden, ist er ihnen zu einer Art von Religion geworden, mindestens zu einem Religionsersatz. Nationalismus und Antisemitismus bestimmen das innere politische Bild Deutschlands. Sie sind die großen revolutionär kreischenden Jahrmarktsorgeln des Fascismus, welche das viel leisere Tremolo des sozialen Reaktion übertönen.


aus: „Antisemiten“, in: Weltbühne, 19. Juli 1932

 

 

Denkmal für Carl von Ossietzky,
Langendreer bei Bochum