10. Mai 1932


Weltbühne

Die „Weltbühne“ war, so wie ich sie von S. J. [Siegfried Jacobsohn] übernommen habe, ein wunderbar getriebenes Metallgefäß, in dem die schönsten Dinge gesammelt waren, und so funkelte es verführerisch im Abendrot der bürgerlichen Zeit - ein letzter Kämpfer, der in edler Linie focht.

Heute ist alles mit Politik und Ökonomie vollgestopft, und aus einem Refugium der Schönheit ist ein Depot aller Sorgen geworden. Aber die „Weltbühne“ hat diesen Übergang gut überstanden, und ich verlasse die Redaktion in dem Bewusstsein, „das Blättchen“, wie S. J. [Siegfried Jacobsohn] so gern sagte, unversehrt durch ein paar Jahre getragen zu haben, die als Kriegsjahre zählen müssen und in denen noch mehr Charaktere als kaufmännische Unternehmungen zusammengebrochen sind.

[…] Ich danke allen guten Menschen, die mich für die Zeit meiner Gefangenschaft mit Schokolade versorgen wollen. Da mir nicht viel an Süßigkeiten liegt, bitte ich, sie gütigst an den Vierten Strafsenat richten zu wollen. Während des Prozesses habe ich die Beobachtung gemacht, daß die Herren Reichsrichter jedes Mal in der Stunde vor der Tischpause Zeichen von Unruhe und hoher Ermüdung bemerkbar werden ließen. Schon Julius Cäsar sprach das Lob der wohlgenährten Männer. Wäre er nicht Diktator gewesen, sondern Angeklagter, so würde er gewiß gesagt haben: Hungrige Richter sind gefährlich …

[…] Von allen aber, die meine Arbeit in dem roten Heft freund- lich oder feindlich verfolgt haben, verabschiede ich mich wie der brave Soldat Schwejk von dem alten Sappeur Woditschka: „Also nachn Krieg, um sechs Uhr abend im [Bierrestaurant] ‚Kelch‘ !“


aus: „Rechenschaft“, in: Weltbühne, 10. Mai 1932

 

 

Grab von Siegfried Jacobsohn (Herausgeber der „Schaubühne“ und „Weltbühne“ bis 1926) Südwestkirchhof Stahnsdorf bei Berlin