10. / 31. Januar 1933


Katastrophe

10. Januar 1933:

Aber man darf Hitler eben nicht danach beurteilen, was er erreicht, sondern nur danach was er angerichtet hat. Als Haupt einer Millionenpartei hat er nicht gewagt, die gierig ersehnte Macht an der Schulter zu packen, hat er sich mindestens in einer fast komischen Weise wieder fortmanövrieren lassen. Aber seine Mission hat er trotzdem erfüllt. Deutschland nimmt die Diktatur als selbstverständlich hin, demokratische Prinzipien zählen nicht mehr, und jede Partei hat sich vom Nationalsozialismus infizieren lassen. Im Grund könnte die Nazipartei heute mit gutem Gewissen vom Schauplatz abtreten, sie hat in kurzer Zeit mehr getan, als ihre Auftraggeber von ihr erwarten durften. Sie hat keine fascistische Regierungsform geschaffen, wohl aber Deutschland den Fascismus ins Blut geimpft, sie hat, was sie die Befreiung nennt, nicht durchgesetzt, wohl aber die Stimmung bereitet, in der eine neue Katastrophe möglich wird. […]

31. Januar 1933:

Denn es gibt auch ein Notrecht des Volkes gegen abenteuerliche experimentende Obrigkeiten. Die deutsche Geduld trabt oft lange dahin, ohne zu fragen, wer ihre Flanken drückt. Sollte aber eine Clique, die nicht zwei Prozent der Nation hinter sich hat, Sporen und Peitsche fühlen lassen, so wird auch dieses sanfte Reittier endlich bocken.

Die Generalstreikparole geht um. Sie wirkt fort, wenn es auch vermessen wäre, über das Tempo aussagen zu wollen. […]


aus: „Der Flaschenteufel“, in: Weltbühne, 10. Januar 1933
aus: „Kamarilla“, in: Weltbühne, 31. Januar 1933

 

 

Carl von Ossietzky,
Häftling im KZ Esterwegen im Emsland, 1934