Karl Kraus liest [2]

Das Wort «Du sollst nicht töten» prallt mit dem andern vom «Gehorsam gegen die Obrigkeit» zusammen – und das große Wort gewinnt Macht über das kleine utilitaristische. Du sollst nicht töten . . .! Und ein so konstruiertes Auge sah sich nun die große Zeit an und zeichnete ihre schrecklichsten Bilder.

Was hier gestaltet ist, mag sich oft erst nach der Gestaltung ereignet haben. Und was sich nicht ereignet hat, das hat nur vergessen, sich zu ereignen – so grauenhaft echt ist das alles. Die großen Worte fallen ab, und es bleibt eine ungeheure Kulturschande, die durch nichts zu entschuldigen ist.

Der Vorleser Kraus ist einer der stärksten Eindrücke. Er sieht fast niemals auf, er liest richtig vor – nur manchmal beschreiben diese seltsamen schmalen Finger einen Halbkreis oder sie zeichnen eine Geste übertrieben auf . . . nur die Stimme herrscht. Nein: der Wille herrscht. Seine Stirnader schwillt. Mit ungeheurer Intensität bricht das Geschriebene und Erlebte noch einmal heraus – eine Eruption seltenen Grades. Er darf es wagen, entgegen allen Vortragsgesetzen, fortissimo zu beginnen und andante fortzufahren – weil es wahr ist, in jedem Augenblick wahr. Schrei auf Schrei entringt sich dieser gequälten Brust, Ruf auf Ruf, Klage auf Klage. Und Anklage auf Anklage . . .

«Ich habe sie in Schatten geformt», heißt es einmal. Das hat er. Wie Schemen, aber erschrecklich lebendig, tanzen diese bunten Burschen noch einmal vorbei, wie Schemen kichert das und posaunt und telegraphiert und hält Reden auf einem Bankett – seltsam tot und seltsam lebendig. Es gibt ja schließlich bei diesen Dingen nur ein Kriterium: die Gänsehaut. Und hier ist Pathos, das keinen rationalistischen Witz verträgt, der glatt und matt herunterfallen würde.

Du sollst nicht töten . . . ! Das ist eine harte Forderung, eine unbequeme Forderung, eine unrationalistische Forderung. Er vertritt sie, er schreit sie hinaus, er pocht mit ehernem gekrümmten Knöchel an die Tür des Todes, die mit den Landesfarben angemalt ist. Und es klingt hohl . . .

Dies ist keine Parteiangelegenheit und keine Landesfrage. Hier ruft ein Mensch und gibt euch alles in allem: Kunst, Gesinnung, Politik und sein rotes, reines Herzblut.

Kurt Tucholsky
Berliner Tageblatt, 22. Januar 1920