Karl Kraus liest [1]

Dienstag abend las im Klindworth-Scharwenka-Saal Karl Kraus aus seinen Schriften. Und aus diesen schrecklichen, unerbittlich grausamen Schriften stieg jener Klang auf, der entsteht, wenn ein blutiges Kreuz mit der Welt zusammenstößt – aus jeder Zeile ruft: «Wie weit habt ihr euch von Güte und Liebe entfernt!» – Er las Szenen aus den ‹Letzten Tagen der Menschheit›, einem zyklopischen, unaufführbaren Drama – unaufführbar deshalb, weil der Reichtum, unbekümmert um dramatische Gesetze, über die Ränder der Form quillt. Darin ist Kraus wie Rabelais: unbekümmert um die Wirkung. Man könnte getrost dies und das streichen – aus dem Gestrichenen machte ein anderer ein neues Stück.

Aber was will das alles gegen Form und Inhalt besagen! Form: letzte Schleifung des Wortes, dem jener der treueste Diener ist – die Sprache verrät sich in ihren Bildern selbst, sie enthüllt den Sprechenden und enthüllt eine Epoche, die, unfähig, sich neue Formen zu bilden, ihre Embleme aus einer vergangenen Zeit nimmt, ohne ahnen zu lassen, daß sie nicht mehr passen. («Der Staat zog das Schwert.» Kein Wort wahr: die Bureaus schrieben eine neue Steuer aus.) Form: Durchblutung des Wortes, feinstes Gefühl für die Nuance, für den Dialekt, für die kleinen Sprachbequemlichkeiten, die sich der oder jener erlaubt. Der norddeutsche Dialekt ist manchmal nur mit einem Wort angedeutet – und der ganze Kerl steht vor einem. Inhalt. Diese Dinge sind zum allergrößten Teil in den Kriegsjahren geschrieben worden. Dieser infernalische Haß gegen eine große Zeit, diese unbedingte Ablehnung, durch nichts zu erschütternde Ablehnung des Blutvergießens ist damals eine Tat gewesen. Heute schreibt dergleichen die halbe Schweiz und ein Zehntel Deutschlands, und das will nicht viel besagen. Aber damals, als die Wellen der vaterländischen Begeisterung allzuhoch gingen – damals dergleichen gewagt und gesagt zu haben: das will etwas bedeuten. Und er hat‘s gewagt.

...