Einstein und Tagore (14. Juli 1930)

T: Die Wahrheit wird erst durch den Menschen Wirklichkeit.

E. Ich kann nicht beweisen, dass meine Vorstellung richtig ist, aber das ist meine Religion.

T: Schönheit liegt in dem Ideal der perfekten Harmonie, welche im universalen Sein ist. Wahrheit ist die perfekte Erfassung des universalen Geistes. Wir Individuen nähern uns ihm durch unsere eigenen Fehler und Irrtümer, durch unsere angesammelte Erfahrung, durch unser erleuchtetes Bewusstsein – wie sonst können wir die Wahrheit erkennen ?!

E: Ich kann nicht wissenschaftlich beweisen, dass man die Wahrheit begreifen muss als eine Wahrheit, die unabhängig von der Menschheit gültig ist, aber ich glaube fest daran. Ich glaube zum Beispiel, dass der Satz des Pythagoras in der Geometrie etwas feststellt, das annäherungsweise wahr ist, und zwar unabhängig von der Existenz des Menschen. Jedenfalls gilt: Wenn es eine Wirklichkeit unabhängig vom Menschen gibt, dann gibt es auch eine Wahrheit, die zu dieser Realität gehört; und in derselben Weise erzeugt die Leugnung einer vom Menschen unabhängigen Wirklichkeit auch die Leugnung der Existenz einer unabhängigen Wahrheit.

T: Die Wahrheit, welche mit dem universalen Sein eine Einheit bildet, muss in ihrem Wesen menschlich sein, sonst kann das, was immer wir Individuen als wahr erkennen, niemals Wahrheit genannt werden – zumindest die Wahrheit, die als wissenschaftlich beschrieben wird und nur durch einen Prozess der Logik erreicht werden kann - in anderen Worten, durch ein Organ der Gedanken, welches menschlich ist. Entsprechend der indischen Philosophie gibt es Brahman, die absolute Wahrheit, die nicht erfasst werden kann, indem der menschliche Geist sich isoliert oder indem man versucht, sie durch Worte zu beschreiben. Sie kann nur dadurch erkannt werden, dass der einzelne Mensch in seiner Unendlichkeit vollständig in ihr aufgeht. Aber eine solche Wahrheit kann nicht zur Naturwissenschaft gehören. Die Art von Wahrheit, die wir jetzt hier diskutieren, ist eine Erscheinung, - das heißt, etwas, das für den menschlichen Geist wahr zu sein scheint und deshalb menschlich ist. Man kann es als maya, oder auch Illusion bezeichnen.

E: So ist also nach Ihrer Auffassung, die man vielleicht auch die indische Auffassung nennen kann, dies nicht die Illusion eines Einzelmenschen, sondern die der gesamten Menschheit.

T: In der Naturwissenschaft werden wir darin geschult, die persönlichen Beschränkungen unseres individuellen Denkens auszuschließen und auf diese Weise ein solches Verstehen der Wahrheit zu erreichen, wie es beim universalen Geist zu finden ist.

E: Das Problem beginnt mit der Frage, ob die Wahrheit unabhängig von unserem Bewusstsein existiert.

T: Was wir Wahrheit nennen, liegt in der rationalen Harmonie zwischen den subjektiven und den objektiven Aspekten der Realität, die beide zum über-persönlichen Menschen gehören.

E: Sogar in unserem täglichen Leben fühlen wir uns gezwungen, den Gegenständen, die wir benutzen, eine Realität unabhängig vom Menschen zuzuschreiben. Wir tun dies, um die Erfahrungen unserer Sinne in einer vernünftigen Weise zu verbinden. Zum Beispiel, wenn niemand im Haus ist, bleibt dieser Tisch dort doch, wo er ist.

T: Ja, er bleibt außerhalb des individuellen Geistes, aber nicht außerhalb des universalen Geistes. Der Tisch, den ich wahrnehme, ist wahrnehmbar durch dieselbe Art von Bewusstsein, welches ich besitze.

E: Unser natürliche Blickpunkt in bezug auf die Existenz der Wahrheit getrennt vom Menschen kann nicht erklärt oder bewiesen werden, aber es ist ein Glaube, ohne den niemand auskommt, auch nicht die primitiven Lebewesen. Wir messen der Wahrheit eine übermenschliche Objektivität zu; sie ist unverzichtbar für uns, diese Wirklichkeit, die es unabhängig von unserer Existenz, von unserer Erfahrung, von unserem Geist gibt, obwohl wir nicht sagen können, was sie bedeutet.

T: Die Naturwissenschaft hat bewiesen, dass der Tisch als ein solider Gegenstand eine Erscheinung ist, und dass deshalb das, was der menschliche Geist als Tisch wahrnimmt, nicht existieren würde, wenn dieser Geist ein Nichts wäre. Gleichzeitig muss man zugeben, dass die Tatsache, dass die ultimative physikalische Realität des Tisches nichts weiter ist als eine Menge von separaten sich drehenden Zentren elektrischer Kräfte, auch zum menschlichen Geist gehört.
Beim Begreifen der Wahrheit gibt es einen ewigen Konflikt zwischen dem universalen menschlichen Geist und demselben Geist, der auf den Einzelmenschen beschränkt ist. Der ständige Prozess der Aussöhnung dieser Gegensätze findet in unserer Naturwissenschaft und Philosophie und auch in unserer Ethik statt. Auf jeden Fall gilt: Wenn es eine Wahrheit gäbe, die in keinerlei Verbindung mit der Menschheit steht, dann ist diese Wahrheit für uns nicht-existent.
Es ist nicht schwierig, sich einen Geist auszudenken, für den die Abfolge der Dinge nicht im Raum stattfindet, sondern nur in der Zeit, wie zum Beispiel eine Abfolge von Noten in der Musik. Für einen solchen Geist ist die Vorstellung von Wirklichkeit verwandt mit der musikalischen Realität, in welcher die Geometrie des Pythagoras keine Bedeutung hat. Es gibt die Realität des Papiers, die sich unendlich unterscheidet von der Realität der Literatur. Für die Art von Geist, den die Motte besitzt, die das Papier frisst, ist die Literatur absolut nicht-existent, aber für den Geist des Menschen hat die Literatur einen größeren Wert an Wahrheit als das Papier selbst. In ähnlicher Weise lässt sich sagen: Wenn eine Wahrheit existieren sollte, die weder eine sinnliche noch eine rationale Beziehung zum menschlichen Geist hat, dann wird diese Wahrheit immer ein Nichts bleiben, solange wir menschliche Wesen bleiben.

E: Dann bin ich mehr religiös als Sie sind.

T: Meine Religion liegt begründet in der Versöhnung des überpersönlichen Menschen, des universalen menschlichen Geistes, mit meinem eigenen individuellen Sein.

 

 

Albert Einstein and
Rabindranath Tagore, 1930



Albert Einstein, seine Frau Elsa and seine Stieftochter Margot mit Rabindranath Tagore, Pratima Devi, Tagores Schwiegertochter, und Professor and Frau Mahalanobis in Berlin, 1930