Unabhängigkeitserklärung des Geistes (1919)

Uns, Kameraden in der Arbeit am Geiste, trennten seit fünf Jahren Armee, Zensur, Vorschriften und der Hass kriegführender Völker. Aber heute, da die Schranken zu fallen und die Grenzen sich langsam wieder zu öffnen beginnen, wenden wir Einsamen der Welt uns mit dem bittenden Ruf an Euch, unsere einstige Genossenschaft wieder herzustellen – aber in neuer Form, sicherer und widerstandsfähiger als früher.

Der Krieg hatte Verwirrung in unsere Reihen getragen. Fast alle Intellektuellen haben ihre Wissenschaft, ihre Kunst und ihr ganzes Denken in den Dienst der kriegführenden Obrigkeit gestellt. Wir klagen niemand an und wollen keinen Vorwurf erheben, zu gut kennen wir die Widerstandslosigkeit des Einzelnen gegenüber der elementaren Kraft von Massenvorstellungen: sie mussten alles hinwegschwemmen, da nichts vorhanden war, an dem man sich hätte halten können. Für die Zukunft jedoch könnten und sollten wir aus dem Geschehenen lernen.

Dazu aber ist es gut, sich an den Zusammenbruch zu erinnern, den die fast restlose Abdankung der Intelligenz in der ganzen Welt verschuldet hat. Die Denker und Dichter beugten sich knechtisch vor den Götzen des Tages und fügten dadurch zu den Flammen, die Europa an Leib und Seele verbrannten, unauslöschlichen giftigen Hass. Aus den Rüstkammern ihres Wissens und ihrer Phantasie suchten sie alle die alten und auch viele neue Gründe zum Hass, Gründe der Geschichte und Gründe einer angeblichen Wissenschaft und Kunst. Mit Fleiß zerstörten sie diesen Zusammenhang und die Liebe unter den Menschen und machten dadurch auch die Welt der Ideen, deren lebendige Verkörperung sie sein sollten, hässlich, schmutzig und gemein und schufen damit aus ihr – vielleicht ohne es zu wollen – ein Werkzeug der Leidenschaft. Sie haben für selbstsüchtige, politische und soziale Parteiinteressen gearbeitet, für einen Staat, für ein Vaterland oder für eine Klasse. Und jetzt, da alle Völker, die in diesem Barbarenkampfe gekämpft – Sieger sowohl als Besiegte – in Armut und tiefster uneingestandener Schande ob ihrer Wahnsinnstat verzweifelt und erniedrigt dastehen – jetzt scheint mit den Denkern auch der in den Kampf gezerrte Gedanke zerschlagen.

Auf! Befreien wir den Geist von diesen unreinen Kompromissen, von diesen niederziehenden Ketten, von dieser heimlichen Knechtschaft! Der Geist darf niemandes Diener sein, wir aber müssen dem Geiste dienen, und keinen andern Herrn erkennen wir an. Seine Fackel zu tragen sind wir geboren, um sie wollen wir uns scharen, um sie die irrende Menschheit zu scharen versuchen. Unsere Aufgabe und unsere Pflicht ist es, das unverrückbare Fanal aufzupflanzen und in der stürmenden Nacht auf den ewig ruhenden Polarstern hinzuweisen. Inmitten dieser Orgie von Hochmut und gegenseitiger Verachtung wollen wir nicht wählen noch richten. Frei dienen wir der Wahrheit, die, in sich grenzenlos, auch keine äußeren Grenzen kennt, keine Vorurteile der Völker, keine Sonderrechte einer Klasse. Gewiss, wir haben Freude an der Menschheit und Liebe zu ihr! Für sie arbeiten wir, aber wir für sie als Ganzes. Wir kennen nicht einzelne Völker, sondern nur das Volk, das eine unmittelbare Volk, das leidet und kämpft, fällt und sich wieder erhebt und dabei doch immer vorwärts schreitet auf seinem schweren Wege in Blut und in Schweiß – dieses Volk aller Menschen, die alle, alle unsere Brüder sind. Nur bewusst werden müssen sich die Menschen dieser Bruderschaft; deshalb sollten wir Wissenden hoch über den blinden Kämpfern die Brücke bauen zum Zeichen eines neuen Bundes, im Namen des einen und doch mannigfaltigen ewigen und freien Geistes.