20. Januar 1931


Republik

Kein junger Mensch von heute wäre mehr imstande, sich mit dem alten Obrigkeitsstaat und mit seiner in die privatesten Dinge reichenden Autorität ohne den leidenschaftlichsten Widerstand abzufinden. Den patriotischen Verehrern der Kasernenpflicht sei es gesagt: - wenn heute Zwanzigjährige wie früher alten Drillunteroffizieren ausgeliefert werden sollten, sie würden am ersten Tage alles in Klump schlagen. […]

Aus alten Legenden und neuem Unsinn bereitete sich Deutschland eine neue verrückte Mixtur. Bismarck war trotz alledem eine Jahrhundertgestalt, Wilhelm II. - nun, ein nicht unbegabter Jahrmarktskünstler -, wer aber ist Adolf Hitler ? Wie groß muß die geistige Versumpfung eines Volkes sein, das in diesem albernen Poltron einen Führer sieht, also eine Persönlichkeit, der nachzueifern wäre ! Wie groß muß die psychologische Unfähigkeit dieses Volkes sein, sein mangelnder Instinkt für Echtheit und Falsifikate ! [...]

Wenn einmal der große Schlußkampf zwischen Kapital und Arbeit ausgefochten wird, dann werden zwar die Grenzsteine wieder wanken, aber dann werden Klassen gegeneinanderstehen und nicht mehr Nationen.

Sie mögen ihr Reich feiern, die Fragmente der ehemaligen Herrenkaste, die Militärs, die hohe Bureaukratie, die Besitzer von Geld, Land und Menschen. Die Republik hat damit nichts zu tun.


aus: „Zur Reichsgründungsfeier“, in: Weltbühne, 20. Januar 1931

 

 

Carl von Ossietzky, etwa 1923