5. Juli 1913


Tolstoi

„Fedja: Und Sie, der Sie an jedem Ersten mit einigen Groschen für Ihre Gemeinheit bezahlt werden, Sie ziehen sich Ihren Uniformrock an und tun sich nun groß über jene Leute, deren kleiner Finger mehr wert ist als Sie im Ganzen und die Sie nicht einmal ins Vorzimmer hineinlassen würden. Sie haben sich hinaufgeschustert und freuen sich nun.
Der Richter: Ich lasse Sie abführen.“

Die militärische Justitia hat nicht nur verbundene Augen, sondern auch verstopfte Ohren und ein gepanzertes Herz. […] Seit alten Zeiten zeichnen sich die militärischen Strafen durch besondere Grausamkeit aus. […] Der Kriegsminister versicherte, dass die Richter nur ihre Pflicht täten. Das muß man ihnen eben zum Vorwurf machen. Das Gesetz ist grausam. Und nicht einen Fingerbreit weichen sie von seinen harten Paragraphen ab. Nicht einer schenkt der milderen Regung des Herzens Gehör. Nicht einer schreit auf: Das kann ich nicht ! Mag es tausendmal Gesetz sein, dagegen bäumt sich mein Gewissen auf: Ich bekenne !

Die Worte, die eingangs dieser Zeilen aus Tolstois Drama [„Der Lebende Leichnam“] zitiert sind, schreit ein zu Tode Gehetzter seinem Richter entgegen. Wir haben genug Opfer wimmern gehört. Ein Richter müsste, von seinen Gefühlen überwältigt, reden. Das wäre in unserer tatenarmen Zeit wie eine Erlösung. Wir sind davor sicher ! Die Beamten arbeiten mit derselben Gewissenhaftigkeit, mit der Sie an jedem Ersten ihr Gehalt einstreichen. Und nach einem besonders harten Urteil gehen sie ruhig nach Hause, nicht ohne Mitgefühl für den armen Teufel, der das Unglück hatte, in die Klasse hineingeboren zu werden, die nun einmal die Objekte der Gesetzgebung liefern muß.


aus: „Das Erfurter Urteil“, in: Das freie Volk, 5. Juli 1913

 

 

 

 

Leo Tolstoi