Die Flecke

In der Dorotheenstraße zu Berlin steht das Gebäude der Kriegsakademie. Ein roter Ziegelbau im Geschmack jenes wilhelminischen Zeitalters, dem die Fassade über alles ging. Diese Fassade nun ist ziemlich nüchtern, dunkelrot und langweilig. Unten, in guter Mannshöhe, läuft um das ganze Haus eine Granitlage herum, Platte an Platte.

Diese Platten sehen seltsam aus; sie sind weißlich gefleckt, der braune Granit ist hell an vielen Stellen, Spuren von früheren Dingen ... Was mag das sein?
Ist er weißlich gefleckt? Aber er sollte rötlich gefleckt sein. Hier hingen, während der großen Zeit die deutschen Verlustlisten aus.

Hier hingen - fast alle Tage gewechselt - die schrecklichen Zettel aus, die endlosen Listen mit Namen, Namen, Namen ... Ich besitze die Nr. 1 dieser Dokumente: da sind noch sorgfältig die Truppenteile angegeben, wenig Tote sind auf der ersten Liste, und sie war sehr kurz, diese Nr. 1. Ich weiß nicht, wie viele dann herausgekommen sind – aber sie gingen hoch hinauf, bis über die Nummer tausend. Namen an Namen – und jedesmal hieß das, daß ein Menschenleben ausgelöscht war oder («vermißt») für die nächste Zukunft ausgestrichen - oder verstümmelt, schwer oder leicht.

Da hingen sie, da, wo jetzt die weißen Flecke sind. Da hingen sie, und vor ihnen drängten sich Hunderte schweigender Menschen, die ihr Liebstes draußen hatten und zitterten, daß sie den Namen, diesen einzigen Namen unter all den Tausenden hier lesen würden. Was kümmerten sie die Müllers und Schulzes und Lehmanns, die hier aushingen! Mochten Tausende und Tausende verrecken – wenn er nur nicht dabei war! Und an dieser Gesinnung ertüchtigte der Krieg.

Und an dieser Gesinnung lag es, daß er vier lange Jahre so gehen konnte. Wären wir alle für einen aufgestanden, alle wie ein Mann –: wer weiß, ob es so lange gegangen wäre. Man hat mir gesagt, ich wüßte nicht, wie der deutsche Mann zu sterben wisse. Ich weiß es wohl. Ich weiß aber auch, wie die deutsche Frau zu weinen weiß – und ich weiß, wie sie heute weint, da sie langsam, qualvoll langsam erkennt, wofür er gestorben ist. Wofür ...

Streue ich Salz in Wunden -? Aber ich möchte das himmlische Feuer in die Wunden brennen, ich möchte den Trauernden zuschreien: Für nichts ist er gestorben, für einen Wahnsinn, für nichts, für nichts, für nichts.

Im Lauf der Jahre werden ja diese weißen Flecke da langsam vom Regen abgewaschen werden und schwinden. Aber diese andern da kann man nicht tilgen. In unsern Herzen sind Flecke eingekratzt, Spuren, die nicht vergehen. Und jedesmal, wenn ich an der Kriegsakademie mit ihrem braunen Granit und den weißen Flecken vorbeikomme, sage ich mir im stillen: Versprich es dir. Lege ein Gelöbnis ab. Wirke. Arbeite. Sags den Leuten. Klär sie auf. Befreie sie von dem Nationalwahn, du, mit deinen kleinen Kräften. Du bist es den Toten schuldig. Die Flecke schreien. Hörst du sie?

Sie rufen: Nie wieder Krieg –!

Ignaz Wrobel
Berliner Volkszeitung, 21. Dezember 1919

 

Königliche Kriegsakademie in Berlin:
Fassade des Lehrgebäudes an der Dorotheenstraße 58/59,
entworfen von Franz Schwechten (1883).