3. Mai 1932


Sozialismus

Eines allerdings muß vorweg von beiden anerkannt werden: Re- formismus und Radikalismus sind zwei natürliche, legale Zweige der Arbeiterbewegung. Der eine ragt in die Zukunft, der andere bedeutet die Gegenwart. Beider Funktionen sind lebenswichtig. Und beide laufen unmittelbar Gefahr, Gegenwart und Zukunft zu verlieren und historische Kategorien zu werden. […]

Es kommt nicht mehr darauf an, recht zu behalten, sondern sämtliche Teile der sozialistisch organisierten Arbeiterschaft vor der Vernichtung zu retten. Wollen wir antiquierte Schlachten wei- terführen, wo der Raum, in dem wir leben, immer enger wird? Wo wir immer mehr zusammengepresst atmen müssen, wo riesenhohe Wände, von unsichtbarem Mechanismus bewegt, immer näher rücken ? Es geht nicht mehr um Programme und Doktrine, nicht mehr um „Endziele“ und „Etappen“, sondern um den technischen Fundus der Arbeiterschaft, ihre Presse und Gewerkschafts- häuser, und schließlich um ihr lebendes Fleisch und Blut, das hof fen und vertrauen und kämpfen will.

Ich frage euch, Sozialdemokraten und Kommunisten: - werdet ihr morgen überhaupt noch Gelegenheit zur Aussprache haben? Wird man euch das morgen noch erlauben?

Was sich zwischen euch aufgebaut hat, ich ignoriere es nicht. Ich kenne es besser als irgendein andrer. Denn ich habe in diesen Jahren von beiden Seiten Schläge erhalten.

Wenn eure Parteien sich nicht zu dem allein dem Augenblick ent- sprechenden rettenden Schritt entschließen können, wenn Vergangenheit noch einmal die dürren Hände reckt, um die Gegenwart zu würgen, dann muß es gute Mittler geben, Parteilose, über jeden Zweifel erhaben, im trüben fischen zu wollen, nichts für sich wün- schend, für den Sozialismus alles. Sie müssen das erste Zusam- mentreffen in die Wege leiten.


aus: „Ein runder Tisch wartet“, in: Weltbühne, 3. Mai 1932

 

 

Vor der Strafanstalt in Berlin-Tegel, von links nach rechts: Kurt Grossmann, Rudolf Olden (Rechtsanwalt), beide Deutsche Liga für Menschenrechte ; Carl von Ossietzky, Alfred Apfel (Rechtsanwalt), Kurt Rosenfeld (Rechtsanwalt)