1. Januar 1920


Mediokrität

Neu in ihrer zeitlichen Form, uralt in ihrem Inhalt: die Sehnsucht nach dem spießerlichen Idyll, nach der aufregungslosen Mittelmäßigkeit. Die alte Bürgerlichkeit, um eine neue Note vermehrt, ist wieder da. Ist die geheime Herrscherin der Stunde. Bürgerlichkeit nicht als sozialer Begriff, aber als seelischer Zustand. Da findet sich alles: Abneigung gegen das Ungewöhnliche, Scheu vor dem Erlebnis, Autoritätsdusel, Servilität, Verlangen nach geruhiger Verdauung. Das ist nicht der Citoyen der großen Revolution, nicht der wortreiche, aber echt begeisterte Mann der Paulskirche, das ist jenes Lebewesen, das die zahlungsfähige Moral erfunden hat, das nur schwelen und niemals glühen, das die Ehrfurcht vor der Leistung nicht kennt, sondern nur das Ducken, wenn eine kräftige Faust droht. Niemals schlägt das Herz höher vor geistiger Tat, aber vor möglichst massiver Entfaltung äußerer Macht, da biegt sich der Rücken. So sieht unser neuer Beherrscher aus, verehrte Freunde, der Tonangebende nach einem Jahr Republik. […]

Ob es so bleiben muß ? Das hängt ganz davon ab, ob endlich erkannt wird, dass dieser Bürger nicht der Repräsentant einer bestimmten Klasse, sondern einer bestimmten Denkart ist. Daß er nicht mit irgendeiner Wirtschaftsweise, wohl aber mit einer ganz bestimmten Erziehungsweise zusammenhängt. Das gibt ihm seine Macht. Deshalb ist er bodenständig und die einzige wirkliche Gefahr, die die deutsche Republik kennt. Wir müssen eilen, schon wächst er von Tag zu Tag. Schwächer wird die Flamme, die jäh aufloderte, und bald wird sie erloschen sein.


aus: „Des Bürgers Wiederkehr“, in: Monistische Monatshefte, 1. Januar 1920

 

 

Carl von Ossietzky, etwa 1893