Über die Freundschaft

Ich werde im Anschluss an meine Essais eine Abhandlung von Etienne de La Boétie veröffentlichen, die meiner übrigen Arbeit Glanz verleihen wird. Er betitelte sie: „Freiwillige Knechtschaft“; spätere Leser, die diesen Titel nicht kannten, haben ihr die recht gut passende neue Überschrift gegeben: „Gegen Einen“; er schrieb sie als eine Art Versuch, in sehr jugendlichem Alter, um für die Freiheit gegen die Tyrannen Stellung zu nehmen. Sie ist unter sachkundige Männern von Hand zu Hand gegangen und hat viel Lob und Beifall erhalten, denn sie ist fein geschrieben und sehr reichen Inhalts. […] Das ist das einzige, was ich von seinem Nachlass habe beibringen können, obwohl er mich, als Zeichen seiner Freundschaft, kurz vor seinem Tode in seinem Testament zum Erben seiner Bibliothek und seiner Papiere einsetzte. An diesem Schriftstück hänge ich deshalb ganz besonders, weil sich von ihm unsere erste Bekanntschaft herleitete; denn ich erhielt Kenntnis davon, lange ehe ich ihn persönlich kennenlernte; dadurch hörte ich zum ersten Male seinen Namen; und so vermittelte es diese Freundschaft, die uns, solange es Gott gefiel, verbunden hat; es war eine so vollständige und vollkommene Freundschaft, dass im Schrifttum schwerlich eine ähnliche vorkommt; unter den Menschen von heute ist so etwas erst recht nicht üblich. Um eine solche Freundschaft aufzubauen, dazu bedarf es so vieler günstiger Umstände, dass das Schicksal sie höchstens alle drei Jahrhunderte einmal zustande bringt.

aus: Montaigne: Essais